Sie haben 2021 die Leitung des ehemaligen Kindertheaterfestivals „Szene Bunte Wähne“ übernommen und als „Tagträumer*innen“ wieder ins Leben gerufen. Könnten Sie ein bisschen etwas über Geschichte des (Vorgänger-)Festivals erzählen? Wie kam es zu der Neuorientierung – mit Gendersternchen?
Das Festival wurde 1990 gegründet und lief rund 30 Jahre sehr erfolgreich. 2017 wurde es in „Szene Waldviertel“ umbenannt. Die Idee von Festivalgründer Stephan Rabl war, eine Art Gesamtkunst-Festival, auch für Erwachsene, zu schaffen. Das hat allerdings nicht so wirklich funktioniert. Wir haben das Festival 2021 erneut als Theaterfestival für junges Publikum ins Leben gerufen. Der neue Titel Tagträumer*innen wurde von unserer Tochter inspiriert. Das Gendersternchen ist uns deshalb besonders wichtig, weil Identitätsfindung und Geschlecht, neben Zukunftsprognosen, eines der wichtigsten Themen im Leben von Jugendlichen sind. Zudem achten wir darauf, dass im Team ein ausgeglichenes Verhältnis herrscht. Etwas, dass uns leider nicht immer gelingt, einfach, weil der Markt für Frauen generell schwieriger ist. Derzeit stehen wir bei einem Anteil von 45 Prozent weiblichen Kunstschaffenden.
Das Festival ist eines der zwei größten Festivals für Kinder- und Jugendkultur in Österreich. Wie gut sind sie in der Region vernetzt? Und wie wichtig ist es in den unterschiedlichen Gemeinden vor Ort zu sein?
Sehr wichtig. Diesen Herbst haben wir beispielsweise in 11 von 12 Gemeinden im Waldviertel gespielt, vom Sportplatz des SV Horn bis ins Museum. Für nächstes Jahr habe ich noch stärker vor die regionale Kultur einzubinden. 2022 planen wir beispielsweise einen Adventkalender zu machen, wo jeden Tag an/in einem Ort etwas anderes passiert – vom Kinderkonzert über Museumsführung bis hin zum Dialogprogramm. Zudem versuchen wir, indem wir das Festival über das Jahr aufteilen, regelmäßiger präsent zu sein. Wenn ich, wie bis jetzt üblich vom 1. September bis zum 30. Oktober rund 120 Vorstellungen habe, dann ist das für viele erschöpfend – man muss das Publikum sich auch erholen lassen. Neues auszuprobieren, birgt natürlich immer ein Risiko. Aber einer der Vorteile ist sicher, dass die Leute nicht jedes Mal ein Jahr warten müssen. Für kommendes Frühjahr planen wir einen Kinderliederschwerpunkt. Rockfest, Zirkus, aber auch Clownerie, sind Themen, die im Sommer sehr gut gehen. Wir haben vor, in den kommenden Jahren so einiges auszuprobieren. Diesen Herbst hatten wir zum Beispiel eine Lichtausstellung, wo die Leute auch selbst Sachen versuchen konnten.
Wie wichtig ist gerade in der Kinderkultur interdisziplinärer Austausch, in dem man eben Theater mit Ausstellungsformaten etc. verbindet?
Das ist heute definitiv verstärkt ein Thema. Es ist mittlerweile bei keiner Produktion mehr so, dass diese eindeutig einem Genre zuzuordnen ist. Oper, Tanz, Visuals und Theater ergänzen sich heute vielmehr. Da hat sich in den letzten Jahren viel getan. Etwas, dass uns in jedem Bereich wichtig ist, ist niederschwellig zu arbeiten und dass es Site-Specific-Angebote gibt. Wir wollen zukünftig verstärkt auf Produktionen setzen, die man in Schulen bringen kann. Ein Theaterbesuch ist für Eltern oft mit Geld verbunden – wenn ich mir zu den Theaterkarten noch Buskarten dazu kaufen muss, solche Dinge kann sich nicht jede Familie leisten.
Welche Erfahrungen haben sie in der Vergangenheit mit Schulen gemacht? Wie interessiert sind diese tatsächlich daran, das Theater zu den Kindern zu bringen?
Leider gestaltet sich die Arbeit mit Schulen heutzutage schwieriger als beispielsweise in meiner Jugend. Wenn man in früheren Zeiten angerufen hat, gab es zumeist einen zuständigen Referenten. Heute hört man des Öfteren „so einen Blödsinn brauch ma‘ ned.“
Es gehen bekanntlich generell weniger Leute ins Theater. Wenn man sich die Zahlen anschaut, ist das erschütternd. 15 Prozent der Schüler gehen beispielsweise ins Dschungel (Wiener Theaterhaus für junges Publikum im MQ, Anm. d. Red.), 15 Prozent von den 15 Prozent kommen zwei Mal im Jahr. Ein Grund dafür ist sicher, dass es eine neue junge Lehrergeneration gibt, die selbst nicht mehr – so wie ich zu meiner Kindheit und Jugend – ins Theater gegangen sind. Zumindest in Österreich ist das so. In Frankreich sieht die Situation anders aus. Da geht jeder Schüler zwei Mal im Jahr ins Theater. Es gibt ganze Theater, die davon leben. Was wir auf jeden Fall versuchen werden, ist zukünftig noch flexibler zu sein, um uns schneller mit den Lehrerinnen und Lehrern kurzschließen zu können. Wir hatten beispielsweise lange Zeit Goethes „Faust“ und „Die Leiden des jungen Werther“ im Angebot und mussten irgendwann dahinterkommen, dass diese in der Schule heute gar nicht mehr gelesen werden. Interesse zu wecken, geht heute oft nur mehr über ein bestimmtes Thema. Für Lehrer interessant sind vor allem Themen wie Mobbing oder Cybermobbing. Das heißt, wir setzen vermehrt auf Eigenproduktionen und schauen, dass wir mit angestellten Schauspielern ein kleines Ensemble haben, um leichter und schneller kommen zu können.
Inwiefern unterscheidet sich das Programm für Schulen beispielsweise von jenem, das Sie für Familien am Wochenende anbieten?
Da gibt es natürlich Unterschiede. An einem normalen Wochenende muss ich den Leuten nicht mit Genderdebatten kommen. Pippi Langstrumpf ist beispielsweise etwas, was heute noch gut funktionieren kann. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Versionen – sei es vom Film herunterinszeniert oder als Grundlage ein bestimmtes Thema zu bearbeiten. Ich sage gerne: die Stücke müssen gefallen, ohne gefällig zu sein. Es ist aber durchaus ein
Spagat unterschiedliche „Publikümer“ zu bedienen. Das Publikum gibt es bekanntlich nicht.
Es heißt zwar immer Kinder und Jugendtheater. Oftmals gehen aber auch – vor allem wenn die Kinder kleiner sind – Erwachsene mit. Wie wichtig ist es mit den Kindern über das Gesehene danach zu sprechen?
Familien sind immer Zielgruppe. Das beste Stück ist jenes, das auch Erwachsenen gefällt. Ich mache seit über 25 Jahren Theater für Kinder und musste feststellen Humor ist das, was immer gleich funktioniert. Und es ist auch wichtig, dass ich das, was ich selbst im Theater mache, cool finde.
Würden Sie mir beipflichten, dass Theater für Kinder- und Jugendliche trotz aller Vielfalt und unterschiedlicher Entwicklungen in der Vergangenheit von vielen Leuten nach wie vor nicht annähernd mit dem Theater für Erwachsene gleichgestellt ist?
Absolut! Wenn sie einen Artikel zu einem Kinder- und Jugendtheaterstück lesen, dann sieht das zumeist so aus: „das Stück hat stattgefunden, Holger Schober hat es geschrieben und inszeniert, die Kinder waren sehr vergnügt.“ Dass auch das Theater für Kinder- und Jugendliche eine Kunstform ist, mit der man etwas erreichen und auch Erwachsene damit interessierten will, das ist für niemanden von Interesse. Ein weiteres Problem, vor dem wir stehen ist auch, dass es schwierig ist gute Schauspieler zu bekommen. Da hört man so Sachen wie, ins Kindertheater kommt niemand von der Burg.
Wollen Schauspielerinnen beziehungsweise Schauspielstudentinnen denn heute überhaupt noch in die Burg?
Ich unterrichte seit 15 Jahren. Die meisten wollen ins Fernsehen, Netflix-Serien drehen. Für Kindertheater interessiert sich keiner. Da muss man früh aufstehen, da schläft der Künstler von Welt aber noch. Um ein Beispiel zur Wertschätzung zu nennen: einer meiner Lehrer aus dem Reinhard Seminar fragte mich, als ich ihn zufällig auf der Straße traf, und ich ihm sagte, dass ich Leiter des jungen Theater Linz bin, es tue ihm leid, dass es mit mir nicht so geklappt habe. Das ist nach wie vor die gängige Denkweise. Auch dass man beispielsweise, wie es gerne gemacht wird, den Regie-Assistenten einteilt etwas für Kinder zu machen. Das halte ich für einen vollkommen falschen Ansatz. Das Gegenteil ist der Fall. Man muss Leute finden, die auch Ideen für Kinder haben. Wenn Kinder immer nur schlechte Stücke sehen, kommen sie später auch als Erwachsene nicht wieder. Das ist ein Spezifikum im deutschsprachigen Raum. In Holland und in Belgien herrscht eine wesentlich höhere Wertschätzung. Was man auch daran sieht, dass sie in der Pisa-Studie jedes Jahr besser abschneiden als wir. Dort gibt es beispielsweise auch größere Fördertöpfe. Wenn ich hierzulande in die unterschiedlichen Gemeinden schaue, dann finden zwar alle, es sollte Theater für Kinder geben, aber niemand ist bereit zu investieren. Was die Förderung angeht sind wir zwar im Großen und Ganzen gut aufgestellt, aber oft herrscht oft so ein „macht‘s einfach aber meldet`s euch nicht bei uns“ vor. Was viele zudem vergessen; wir haben die gleiche Auslastung wie die Theater für Erwachsene, aber die Karten kosten bei uns nicht weniger – das heißt, wir bräuchten für das gleiche Geld eigentlich fünf Mal so viele Zuseher.
Derzeit vernimmt man trotz kultureller Vielfalt, die in Niederösterreich herrscht, auch kritische Stimmen was die Förderpolitik angeht. Wie schaut es in Sachen Förderung für die Tagträumer*innen aus? Sie meinten, Sie sind gut gefördert …
Diesbezüglich profitieren wir sicherlich von einer über 30 Jahre lang gewachsenen Struktur. „Szene Bunte Wähne“ war eines der ersten Festivals das in Niederösterreich einen Dreijahresfördervertrag erhielt. Wir haben für 2021 eine Jahres- und für 2022/23 eine Doppelförderung bekommen. Ich kann also behaupten, wir sind gut gefördert. In Niederösterreich wird generell viel Wert auf Kultur gelegt, natürlich gibt es viele die einen Teil vom Kuchen haben wollen. Das „KinderKunstlabor“ bündelt derzeit sicher einiges an Ressourcen. Ich denke aber, es wird in der Zukunft viel Austausch geben. Ich gehöre zudem bereits zu jener Generation, die keine Förderung mehr erwartet, sondern ich bin eher überrascht, wenn ich eine bekomme.
Reden wir abschließend noch darüber, warum Theater für junge Leute überhaupt wichtig ist und eben kein „des brauch ma ned“ – wie sie zuvor erwähnt haben?
Theater ist Herzensbildung, Theater bildet die Fantasie. Um etwas zu verändern, braucht es Vorstellungsvermögen. Im Theater werde ich mit meinen Emotionen konfrontiert. Das Theater zeigt neue Blickwinkel und öffnet Räume. Es ist zudem ein besonderes Erlebnis mit 100 anderen in einem Raum zu sitzen und zu sehen wie alle lachen oder seufzen, zu sehen, das bewegt nicht nur mich, dieses Thema spricht auch andere an. Theater macht einfach sehr viel mit mir. Im Gegensatz zum Schulsystem, das klar strukturiert ist. Ich sehe selbst, welche Möglichkeiten das Theater auch hier bietet. Ich biete regelmäßig Workshops für Jugendliche an. Da ist es oft so, dass mich im Vorfeld ein Lehrer darüber aufklärt, dass er ein, zwei Problemfälle in der Klasse hat. Ich sage dann immer, bitte sagen sie mir nicht wer. Am Ende frage ich meist aus Interesse nach. In neun von zehn Fällen nennt man mir jene Schüler, die am meisten mitgearbeitet haben. Heutzutage können zwei von drei Schülern dem Mathematikunterricht nicht folgen. Bei uns können sie folgen. Theater kann die Menschen abholen und weiterführen. Kurz gesagt: mit Kunst und Kultur geht es den Leuten besser.
Zur Person Holger Schober wurde 1976 in Graz geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik sowie Schauspiel am Max Reinhardt Seminar. Zudem absolvierte eine Ausbildung im Fach Kulturmanagement. Ab 1997 (mehrere preisgekrönte) Bühnenstücke sowie Drehbücher für Film und Fernsehen. Schober war unter anderem künstlerischer Leiter des Theater Kinetis, ab 2005 Teil des Leitungsteams am Theater an der Gumpendorfer Straße sowie von 2009 bis 2011 Leiter des Kinder- und Jugendtheaters u/hof: am Landestheater Linz. Seit Frühjahr 2021 leitet Holger Schober gemeinsam mit der kaufmännischen Leiterin Katharina Schober-Dufek das Tagträumer*innen-Festival.
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